/BREMER NACHRICHTEN 23.05.2012

 

„Gefahren für Bürgerrechte und Demokratie“

Jedes Jahr im Mai stellen acht deutsche Bürgerrechtsorganisationen ihren alternativen „Grundrechte-Report“ (Fischer-Taschenbuch) vor, die die Lage der Bürger- und Menschenrechte in Deutschland dokumentiert. Mitherausgeber ist der Bremer Rechtsanwalt und Publizist Rolf Gössner. Mit ihm sprach Julia Basic über den diesjährigen Report.

Herr Gössner, welche Verstöße gegen die Grundrechte dokumentiert der Report?

Schwerpunkt ist die Sicherheitspolitik des Bundes und der Länder. Es werden Fälle dokumentiert, in denen Sicherheitsorgane – häufig unter dem Vorwand der Terrorismusbekämpfung – die Grundrechte von Bürgern verletzen und die Überwachung der Bevölkerung vorantreiben. Ein weiterer Punkt ist der Datenschutz und das Recht auf informationelle Selbstbestimmung. Die heimliche Überwachung und Durchsuchung von Privat-Computern mit Trojanersoftware ist eine kaum kontrollierbare Maßnahme und ein Eingriff in den Kernbereich des Privatlebens. Auch Unverdächtige bleiben nicht verschont. Ein anderes Beispiel ist die unverhältnismäßige Abfrage und Auswertung von Handydaten während der Proteste gegen Neonaziaufmärsche in Dresden im Februar 2011. Das hat sich als neue Bedrohung der Versammlungs- und Telekommunikationsfreiheit herausgestellt. Genauso die gesetzlosen Einsätze von polizeilichen Überwachungsdrohnen im Jahr 2010 bei den Anti-Atom-Demos im Wendland oder 2011 in Sachsen.

Was halten Sie vom Vorgehen der Polizei bei der Blockupy-Aktion in Frankfurt am vergangenen Wochenende?

Letztlich werden mit Totalverboten und massivem Polizeieinsatz die Grundrechte auf Versammlungs- und Meinungsfreiheit außer Kraft gesetzt. Solche Verbote sind unverhältnismäßig und haltlos. Sie gefährden die Demokratie, weil das Grundrecht der Versammlungsfreiheit für den demokratischen Rechtsstaat von elementarer Bedeutung ist.

Wie kritisch sehen Sie die vom Bundestag beschlossenen Anti-Terror-Gesetze?

Die umfangreichen Terrorismusbekämpfungsgesetze wurden nach dem 11. September 2001 in Kraft gesetzt und Ende 2006 noch verschärft. Teilweise sind die Befugnisse von Polizei und Geheimdienste befristet, aber verlängerbar. Da sie immer wieder verlängert wurden – und das ohne unabhängige Überprüfung – haben wir inzwischen sozusagen ein "Terrorismusbekämpfungsergänzungsverlängerungsgesetz".

Werden hier Grundrechte verletzt?

Ja, mit den neuen Polizei- und Geheimdienstbefugnissen wird zu stark in Freiheitsrechte und Rechtsstaatsprinzipien eingegriffen. Etwa mit den Auskunftsregelungen, wonach unter anderem Banken und Reiseunternehmen verpflichtet sind, den kaum kontrollierbaren Geheimdiensten Konten- oder Reiseauskünfte über Kunden zu geben. Oder durch die verstärkte Verzahnung von Polizei und Geheimdiensten.

Welche Rolle spielt die EU-Gesetzgebung bei der Sicherheitspolitik? Ersetzen EU-Regelungen bald unser Grundgesetz?

Nein, auch wenn oft mit problematischen EU-Vorgaben in die nationale Sicherheitspolitik hineinregiert wird. Zum Beispiel bei der anlasslosen Vorratsspeicherung von Telekommunikationsdaten. Das bundesdeutsche Vorratsdaten-Gesetz, das auf der EU-Vorgabe beruhte, hat das Bundesverfassungsgericht 2010 für verfassungswidrig erklärt. Die Sicherheitspolitik der EU halte ich insgesamt für höchst problematisch.

Ist das Bundesverfassungsgericht eine Art Ersatzgesetzgeber geworden?

Nein, denn es formuliert und erlässt  ja keine Gesetze. Aber es ist ein wichtiges Korrektiv und man kann aus den Urteilen verfassungsrechtliche Kriterien und Grenzen herauslesen. Große Probleme gibt es etwa bei den einzelnen Regierungen und Parlamenten. In jüngerer Vergangenheit mussten so viele Sicherheitsgesetze für verfassungswidrig erklärt werden, dass man Zweifel am Verfassungsbewusstsein derjenigen haben muss, die für solche Gesetze verantwortlich sind.

Gab es im vergangenen Jahr auch internationale Kritik an Deutschland?

Ja, so kritisierten die Vereinten Nationen die mangelhafte Umsetzung des UN-Sozialpaktes in der Bundesrepublik. Da geht es um wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte. Deutschland hat hier einen großen Nachholbedarf. Die Kritik bezieht sich etwa auf die Pflicht von Hartz-IV-Empfängern, jede zumutbare Arbeit annehmen zu müssen. Unter bürgerrechtlichen Gesichtspunkten ist das problematisch. Auch die mittelbare Diskriminierung von Migranten beim Zugang zu Bildung und Arbeit und die oft menschenunwürdigen Bedingungen, unter denen Asylbewerber in unserem Land leben, wurden gerügt.

Zur Person: Rolf Gössner, Jahrgang 1948, wurde in Tübingen geboren. Er ist Parlamentarischer Berater auf Bundes- und Länderebene und seit 2007 stellvertretender Richter am Bremischen Staatsgerichtshof.